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15.04.2015 Heft 16 / 2015

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Rate mal, was es zum Essen gibt...

Beim „Lunch in the Dark“ tauchen die Gäste für kurze Zeit in die Welt der Sehbehinderten ein.

revue hat den Selbsttest gewagt und dabei nicht nur mit widerspenstigem Gemüse gekämpft.

Text: Renée Ries (renee.ries@revue.lu) / Fotos: Philippe Reuter

Etwas aufgeregt stehe ich um die Mittagszeit vor dem Club Haus beim Kiosk. Immer mehr Menschen gesellen sich dazu, junge und ältere. Es wird geplaudert und gelacht, doch eine gewisse Anspannung ist nicht zu übersehen. Rund 50 Personen sind zum gemeinsamen Mittagessen nach Schifflingen gekommen. An und für sich nichts Ungewöhnliches – wären da nicht die Augenbinden, die am Eingang bereit liegen. Wir alle haben uns auf ein „Lunch in the Dark“ eingelassen, ein Mittagessen im Dunkeln.

Zu den Teilnehmern gehört auch eine 13e Klasse des Lycée Josy Barthel aus Mamer, die mit ihren Lehrern, dem Architekten André Wildschütz und dem Bauingenieur Christian Cornette, hier sind. Ihnen ist dieses „Experiment“ zu verdanken, denn es ist Teil eines neu eingeführten „Design for all“-Moduls in den „Génie civil“-Abschlussklassen. Die angehenden Ingenieure erfahren darin, mit welchen Hindernissen Behinderte tagtäglich konfrontiert sind, und überlegen gemeinsam, wie Gebäude und Orte für alle zugänglich gemacht werden können. Dazu gehören auch Selbsterfahrungen wie Rollstuhlfahren und „Dinners in the Dark“.

Die Verantwortliche des Senior Clubs, Marianne Maroldt, klatscht in die Hände. „Et geet lass“, ruft sie über die Köpfe hinweg. Wir drängen zum Eingang und jeder erhält eine Augenmaske. Beim Aufsetzen entdecke ich darauf das Logo einer deutschen Fluggesellschaft, dann verschwindet die Welt um mich herum. Die nächsten beiden Stunden bin ich blind und mir ist jetzt schon mulmig zumute. Hilflos stehe ich herum, bis mich eine nette Stimme anspricht: „Madame, däerf ech Iech un den Dësch féieren?“ Aber ja doch, gerne. Die Hand auf dem Unterarm meiner Begleiterin, die sich als Romance vorstellt, bewege ich mich in Richtung Ess-Saal. Anfangs zögerlich, dann mit zuversichtlicheren Schritten – nicht zuletzt wegen der sicheren, aber unaufdringlichen Führung.

Bild 1: Beschreibung unten Bild 2: Beschreibung unten

Bildbeschreibung Fotos:

Bild 1: Sitzt da jemand? Nach dem Nachbarn tasten sollte man nur, wenn man sich sehr gut kennt.
Bild 2: Ein Stück Brot gefällig? Theresa und André lassen es auch mit verbundenen Augen nicht an Tischmanieren fehlen.

Da, mein Stuhl! Ich ertaste die hölzerne Lehne, den Sitz und die Tischkante, nehme Platz und bin froh, niemanden dabei angerempelt oder Besteck vom Tisch geworfen zu haben. Der Raum kommt mir sehr groß und gleichzeitig sehr eng vor. Alle Geräusche sind überlaut und ich kann mich nicht orientieren. Sitzt überhaupt schon jemand neben mir? Mir wird schlagartig bewusst, wie sehr ich mich auf meinen Sehsinn verlasse, wenn es darum geht, meine Umwelt wahrzunehmen. Kontakt zu anderen Menschen nehme ich sonst – wie die meisten – zunächst mit den Augen auf. Ein Blick, ein Lächeln, dann erst das gesprochene Wort. Jetzt frage ich auf’s Geratewohl nach links: „Sëtzt do een?“ Ein wenig plump, aber ich weiß mir gerade nicht anders zu helfen. Eine weibliche Stimme antwortet fröhlich: „Jo! Moien, ech sinn d’Theresa.“ Eine Männerstimme sagt: „An ech sinn den änder, mir hunn ons schon dobausse gesinn.“ Gut, dass er seinen Namen genannt hat, denn an der Stimme hätte ich André Wildschütz nicht erkannt.

Als die Getränke serviert werden, merkt man, dass die Club-Helfer am Morgen gebrieft wurden, denn sie verrichten ihre Arbeit behindertengerecht. Sie sprechen jeden Gast zuerst an, ehe sie die Flasche hinstellen, und beschreiben, wo sich diese genau befindet. Ich lasse meine Finger vorsichtig über die Tischfläche wandern – die Hände werden während des ganzen Essens meine wichtigsten „Instrumente“ sein – und ertaste die kleine Flasche Sprudel. Damit beim Einschenken nichts überläuft, halte ich den Finger ein Stück weit ins Glas, eine ganz normale Vorgehensweise, wie sie Nichtsehende anwenden. Das Anstoßen mit meinen Tischnachbarn gestaltet sich da schon etwas schwieriger. Wenn keiner etwas sieht, weiß man nicht so recht, wo man sein Glas hinhalten soll. Aber nach einigem Hin und Her und viel Gelächter schaffen wir es dann doch, die Gläser klingen zu lassen.

Nun wird es Ernst: Der erste Teller wird hingestellt. Es duftet nach Lauch, und obwohl ich die Suppe nicht sehe, weiß ich, dass sie grün ist und wie sie schmecken wird. Es ist erstaunlich, wie sich die Sinneswahrnehmung verschiebt, wenn das Sehen nicht möglich ist. Gerüche sind um ein Vielfaches intensiver, Geräusche vernehme ich als ohrenbetäubend. Vor allem das Klappern der 50 Bestecke um mich herum. Vorsichtig tauche ich den Löffel dort ein, wo ich die Mitte des Tellers vermute und führe ihn zum Mund. Gar nicht so einfach, auf Anhieb die richtige Stelle zu treffen, doch dank langsamer Bewegungen gelingt es schließlich. Je öfter ich löffele, desto mehr übung bekomme ich. Kühn lege ich an Tempo zu und bald ist die Suppe aufgegessen. Glaube ich zumindest. Die letzten beiden Löffel waren jedenfalls leer.

Bild 3: Beschreibung unten Bild 4: Beschreibung unten

Bild 3: Zum Wohl: Das Anstoßen mit Lehrer Christian Cornette gestaltet sich etwas schwierig.
Bild 4: Könnten das Himbeeren sein? Geschmack- und Geruchssinn sind plötzlich sehr wichtig.

Die Hände werden während des ganzen Essens meine wichtigsten „Instrumente” sein.

Geschafft! Der erste Gang wird abgeräumt. Hat meine Bluse schon die ersten Flecken? Doch nun bittet Marianne Maroldt um unsere Aufmerksamkeit. Colette Schmitz und Chantal Achten sind auf Einladung von Info Handicap hier, um den „Lunch in the Dark“ zu begleiten. Die beiden sehbehinderten Damen fragen uns, was wir denn gerade gegessen hätten. „Porrettenzopp!“, ertönt es prompt aus unzähligen Kehlen. „Richteg“, sagt Colette. Sie und Chantal erklären, dass Sehende gern „mat den Aen iessen“, für Blinde sei dagegen der Geruchssinn sehr wichtig. Wie vermutet, sind auch alle anderen Sinne schärfer als bei Sehenden.

Der nächste Gang wird aufgetragen. Wie Colette und Chantal zuvor erklärt haben, wird für Blinde das Essen nach einer bestimmten Ordnung auf dem Teller angerichtet. Stellt man sich diesen wie ein Ziffernblatt vor, liegt das Gemüse auf 12 Uhr, die Kartoffeln auf 4 Uhr und das Fleisch auf 8 Uhr. Beflügelt dadurch, wie gut ich die Suppe gemeistert habe, will ich nun das Gemüse probieren – und scheitere kläglich. Ein halbes Dutzend Mal erreicht eine leere Gabel den Mund. Frust macht sich breit und die Versuchung, mit den Fingern zu essen, wächst mit jeder Sekunde. Meinen Nachbarn scheint es nicht besser zu ergehen. „Also, d’Zopp war méi einfach“, klagt Theresa neben mir.

Ich reiße mich zusammen und konzentriere mich. Mit bedächtigen Bewegungen schiebe ich das Gemüse – das inzwischen nicht mehr auf 12 Uhr liegt, sondern auf dem ganzen Ziffernblatt verteilt ist – mit dem Messer auf die Gabel, hoffe, dass Letztere waagerecht bleibt und – es funktioniert! Es sind Möhren, mit denen ich da kämpfe. Widerspenstige Dinger. Zum Glück sind es keine Erbsen. Das Fleisch – ist das Schweinefilet in Sahnesoße? – schneiden und aufspießen ist dagegen ein Kinderspiel, auch die Kartoffeln sind mir wohlgesonnen. Nachdenklich führe ich mir vor Augen, wie Blinde viel kompliziertere Situationen als diese täglich meistern und bewundere sie im Stillen dafür.

Das Ende unseres „Lunch in the Dark“ nähert sich mit dem Dessert. Die Erleichterung ist ringsum spürbar als die Gäste feststellen, dass ein Schälchen mit cremigem Inhalt vor ihnen steht. Da kann nichts mehr kullern und mit dem Löffel sind inzwischen alle sehr geschickt. Aber was es ist, darüber gehen die Meinungen auseinander. Es schmeckt fruchtig, nach Himbeeren. Oder nicht? Nachdem mehrere falsche Antworten gegeben wurden meint einer der Schüler, es sei Tiramisu mit Himbeeren. „Richteg“, freut sich Colette Schmitz und gratuliert uns, dass wir das ganze Essen durchgehalten und nicht gemogelt haben.

Zwei Stunden hat unsere „Blindheit“ gedauert. Wir dürfen die Augenmasken abnehmen und blinzeln, denn das Licht tut nach der langen Dunkelheit den Augen weh. „Hutt Der dann all propper giess?“, fragt Colette Schmitz vergnügt. Ich begutachte meinen Platz, meine Bluse und bin erstaunt: Wider Erwarten nicht ein Fleck. „Jo, natierlech!“, tönt es von allen Seiten. Und schlagfertig kontert Colette: „Dir kënnt mer jo vill verzielen, ech kann et jo net kontrolléieren.“

Bild 5: Beschreibung unten Bild 6: Beschreibung unten

Bild 5: Höchste Konzentration: Das Essen auf der Gabel zu balancieren ist komplizierter als vermutet.
Bild 6: Praktisches System: Fleisch, Gemüse und Kartoffeln sind nach Uhrzeiten angerichtet.

 

Foto: Colette Schmitz

Drei Fragen an Colette Schmitz

Was glauben Sie, haben die Teilnehmer beim „Lunch in the Dark“ gelernt?

Die Leute haben einen kleinen Teil vom Alltag eines Blinden erfahren. Ich bin an vielen Sensibilisierungsaktionen beteiligt und muss sagen, dass das Interesse heute sehr groß war. Da bleibt immer etwas hängen und hilft beim zukünftigen Umgang mit Blinden.

Zum Beispiel?

Es ist zum Beispiel wichtig, einen Blinden beim Servieren oder vor dem Berühren immer anzureden, sonst erschrickt derjenige. Oder beim Führen eines Blinden: Man muss nicht ständig wiederholen, dass es geradeaus geht. Es reicht, wenn man darauf hinweist, dass eine Tür, eine Stufe oder ein Richtungswechsel kommt.

Was soll man Blinden gegenüber unbedingt vermeiden?

Wenn Sie einem Blinden über die Straße helfen möchten, packen Sie ihn nicht einfach am Arm und zerren ihn mit. Sprechen Sie ihn zuerst an und fragen Sie, ob Sie behilflich sein dürfen. Wenn er bejaht, legen Sie seine Hand auf Ihren Arm oder fassen ihn leicht am Ellbogen. Wenn die Antwort aber „nein“ lautet, dann respektieren Sie das. Was ich selbst überhaupt nicht ausstehen kann: Wenn der Restaurantkellner mich bei der Bestellung ignoriert und stattdessen meinen Mann fragt: „Und was isst die Dame?“ Ich bin zwar seh-, aber nicht geistig behindert.


Die 60-jährige ist u.a. Vizepräsidentin der Vereinigung „Chiens guides d ́aveugles au Luxembourg“ und seit über 30 Jahren stark sehbehindert. Die Düdelingerin engagiert sich ehrenamtlich in Sensibilisierungsaktionen, Konferenzen und Rundtischgesprächen für die Förderung der Lebensqualität und die Integration von Personen mit speziellen Bedürfnissen.

 

Bild 7: Beschreibung unten

Bild 7: So machen es auch Blinde: Der Finger im Glas verrät, wann das Glas voll ist.

 

 

 

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Chiens Guides d'Aveugles au Luxembourg   -   www.chienguide.org