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31.08.2016

Linien für mehr Freiheit

Wie ein Leitsystem sehbehinderten Menschen zur Selbstständigkeit verhilft

VON CHERYL CADAMURO

Joaquim mit Blindenlangstock, Mariette Peters dahinter

Mariette Peters hat Joaquim Alves beigebracht, wie man den Blindentaststock benutzt.
(FOTO: PIERRE MATGÉ)

Joaquim Alves besitzt nur noch zwei Prozent Sehkraft und ist auf seinen Blindentaststock angewiesen. Das Leitsystem für sehbehinderte Menschen in Luxemburg-Stadt erleichtert ihm die Orientierung – und damit den Alltag.

Zielstrebig folgt er den Linien, streift dabei mit seinem Taststock über die Rillen, die auf dem Boden vor ihm am hauptstädtischen Bahnhofsplatz verlaufen – und findet so seinen Weg: Joaqium Alves.

Der 43-Jährige leidet unter Retinitis Pigmentosa, einer erbbaren Augenkrankheit, die langsam die Netzhaut zerstört. Bis zu seinem 20. Lebensjahr hatte er keinerlei Sehprobleme, doch dann hat es schleichend begonnen. Die Sehkraft wurde, wie bei vielen seiner Familienangehörigen, schlechter. Mit 27 Jahren musste er schließlich seinen Führerschein abgeben, mit 41 Jahren benutzte er zum ersten Mal den Blindentaststock. Noch zwei Prozent Sehkraft hat er nun – seine Welt ist grau.

Wenn er Einkäufe erledigen, einen Arzt aufsuchen oder auch einfach nur spazieren gehen möchte, kommt Joaquims Taststab zum Einsatz. Doch dieses Hilfsmittel reicht oftmals nicht aus. In Luxemburg-Stadt gibt es so zusätzlich ein Leitsystem für blinde Menschen, das Betroffenen den Alltag um ein großes Stück erleichtert.

„Es ist eine große Hilfe, denn es erleichtert Menschen, die nicht gut sehen, die Orientierung“, erklärt Joaquim. Und das funktioniert an sich auch ganz einfach: Mit dem Blindentaststock erfühlt Joaquim die Rillen, Noppen oder Streifen. So erfährt er, wo Übergänge sind, wann er stehen bleiben muss, in welche Richtung er gehen soll.

Im Fachjargon heißen diese Hilfsmittel Leitlinien, Aufmerksamkeitsfelder, Richtungsfelder. Trockene Wörter. Für Joaquim viel mehr als nur das: „Diese Linien verhelfen mir zu mehr Freiheit. Ich bin dank ihnen viel autonomer“, sagt er und führt mit seinem Stock vor, wie gut er dieses System beherrscht. Zielstrebig läuft er vor. Wüsste man es nicht besser – man könnte denken, dass er keine Sehbehinderung hat. Doch man sieht es. Am Taststock.

Wer ist hier blind?

Umso verwunderlicher, dass manche Menschen nicht sehen, dass er blind ist. Joaquim erklärt: „Ein sehr großes Problem besteht darin, dass viele Menschen nicht wissen, wozu diese Linien dienen – und es gibt welche, denen es egal ist. So muss ich mich dauernd entschuldigen, wenn ich irgendwo vorbei möchte und jemand auf den Linien steht. Ich verliere so meine Konzentration und schließlich die Orientierung.“

Und tatsächlich. Bei einem Stadtrundgang mit ihm können wir uns davon überzeugen. Wenn es nicht gerade Passanten sind, die es sich auf den speziellen Feldern bequem machen, sieht man auch schon mal Verkaufsstände auf den Linien. Oder es sitzen Bettler auf dem Boden und regen sich über den ausschlagenden Stock auf. Doch egal ob aus Ignoranz oder Unwissen, es läuft immer aufs Gleiche hinaus: Joaquim muss sich entschuldigen, um an den doch eigentlich gut sehenden Menschen vorbeizukommen. Richtig ärgerlich wird es, wenn er eine Straße überqueren möchte, den Linien bis zum Fußgängerübergang folgt – und dann beispielsweise ein Taxi auf den Zebrastreifen parkt. Auch das ist keine einmalige Erfahrung – für Joaquim gehört das zum Alltag dazu.

Und dann gibt es auch noch die Mitbürger, die es etwas zu gut meinen. „Manche fassen mich einfach an und wollen mir über die Straße helfen. Das ist auch nett, doch wenn man wirklich helfen möchte, sollte man die blinde Person zuerst einmal ansprechen – und fragen, ob man überhaupt Hilfe benötigt.“

Zu diesem Vorgehen rät indes auch Mariette Peters. Sie ist Rehabilitationstrainerin und lehrt sehbehinderte Menschen den Umgang mit dem Taststock. Der Ablauf des Trainings variiert von Kunde zu Kunde. „Was ich meinem Schützling beibringe, ist davon abhängig, was der Betroffene selbst lernen möchte bzw. im Alltag benötigt. Ältere Menschen sind ja oft nicht mehr so viel unterwegs. Für sie ist es wichtig, zu Hause gut klarzukommen. Jüngere, mobilere Kunden gehen aber auch gerne selbst noch einkaufen, machen längere Spaziergänge oder verreisen gerne mal.“

Alltagshürden

Viele Kunden von Mariette Peters müssen jedoch vor allem eines lernen: die Benutzung des „weißen Stocks“. Solche Dinge wie, dass, wenn beim Gehen die Tastkugel des Stabs vorne links ist, der rechte Fuß vorne sein muss und dass der Stock nur so breit wie die eigenen Schultern ausschlagen soll – das alles müssen ihre Schützlinge beherrschen.

Die Trainerin findet, dass es für sehbehinderte Menschen viele Alltagshürden gibt: „Die Baustellen auf den Straßen sind schon ein akutes Problem. Es ist oft schwierig für die Betroffenen, sich unterwegs zurechtzufinden. Es gab aufgrund von ungesicherten Baustellen auch schon schwere Unfälle. Einmal haben Jugendliche in Mersch Absperrungen weggenommen – ein blinder Mann ist deswegen in eine Grube gestürzt.“ Ein tragischer Vorfall, der leicht hätte verhindert werden können.

Doch sie hat auch Lob übrig: „Die Verwaltung von Luxemburg-Stadt gibt sich viel Mühe. Man merkt, dass der gute Wille da ist.“ Die Stadt Luxemburg gilt – neben der CFL, die das System am Bahnhof hierzulande eingeführt hat – als Vorreiter in Sachen Blindenleitsystem. 2011 wurde die Avenue de la Gare komplett neu gestaltet – und an die speziellen Bedürfnisse von Sehbehinderten angepasst. Bei neuen Straßenbauprojekten würde zudem, so Pressesprecherin Patricia Kariger, darauf geachtet, diverse Hilfsmittel, wie Leitlinien und Ampeln mit akustischem Signal, einzuplanen. Alle Fußgängerüberwege sollen so beispielsweise an die Bedürfnisse von Menschen mit eingeschränkter Mobilität und von Sehbehinderten angepasst werden.

Aber das ist erst der Anfang. „Beacon“ ist das Projekt der Zukunft. Dies ist ein mobiles Blindenleitsystem im Taschen- bzw. Smartphoneformat, an dem die Stadt Luxemburg derzeit arbeitet. Per „Bluetooth“-Verbindung sollen sehbehinderte Menschen damit Ortungsnachrichten auf ihr Smartphone erhalten.

An welcher Bushaltestelle sie sich befinden, in welche Richtung der Bus fährt und an welcher Kreuzung sie sind: All dies können die App-Nutzer so ganz leicht herausfinden. Das System funktioniert per Sprachausgabe – die Mitteilung wird demnach laut vorgelesen.

Das alles sind Änderungen, die Menschen mit einer Sehbehinderung das Leben sehr erleichtern. Auch wenn, wie Joaquim Alves erklärt, „nichts das Augenlicht ersetzen kann“.

 

 

 

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